Bushaltestelle

Drei fünfzig für vier Haltestellen! Drei-Fünf-Zero. Die nehmen es auch von den Untoten. Und der Bus soll erst in sechs Minuten kommen. Da friere ich mir noch einen Ast ins Knie. Ich könnte ja zu Fuss gehen. Aber ein bisschen Würde sollte man sich auch an einem Montagmorgen bewahren. Klinisch bin ich sowieso schon wieder im Wochenende. Dazwischen liegt aber noch ein echtes Problem. Sie nennen es Schule. ‘Non scholae sed vitae…’, sagen sie. Dass ich nicht absacke! Wenn dem so wäre, dann hätte ich schon vor Jahren angefangen zu leben, q.e.d – quod erat expectandum.

Die Haltestelle kenne ich mittlerweile bis runter auf Rastergrösse Kaugummileiche. Jeden Morgen trampeln die selben Roboter auf ihnen herum. Man könnte ihnen gleich die Hand schütteln: ‘Herr Harzenmoser, Frau Zumstein, guten Tag, freut mich…’ und weitere Lügen, ohne welche die anderen einen zu schneiden beginnen würden.

Aber heute ist da noch ein Neuer. Der wird auch gebührend geröntgt. Er scheint gar nicht so neu auf der Welt zu sein: Er röntgt schamlos zurück. Sein Blick bleibt an meinem T-Shirt hängen: “FAQ DA CLOUD”. In seinen Augen glänzt ein root-Konsolen-Cursor. Der glaubt an Nullen und Einsen – an Einsen aus Hoffnung und an Nullen aus Erfahrung. Kenn’ich, kenn’ich. Die haben auf der Uni ihren Vorlesungsplan noch nach Interessen zusammengestellt. Lochkartengeneration und stolz darauf. Von denen habe ich auch zwei zu Hause. Mitte vierzig. Mumie. Ich könnte ihn nach der Zeit fragen. Der fällt durch. Der glaubt glatt, ich hätte kein Smartphone. Sein Verstand würde auf allen acht Kernen in einen Bluescreen rasen. Da ginge gar nichts mehr. Niente, nada, nastrowje.

Auch ich werde später meinen Vorlesungsplan nach meinen Interessen zusammenstellen: Kreditpunkte. Ich habe einen vollständigen Satz von Hauruck-Gurus ihres Faches an der Hand, die mich fürs Studium schlau machen und – last but first – mir gute Noten verabreichen und dann den Zettel sichern. So schaut’s aus. Cosinus ergo sum.

Inzwischen ist sein Scan bei meinen Designer-Jeans angekommen. Der urteilt nur nach dem Äusseren. Sowas von oberflächlich! Aber das sieht man dem auch schon von Weitem an: Der ist von innen heraus oberflächlich. Dass Kleider schon beim Kauf voller Löcher und Risse sein könnten, ist ein gänzlich neuartiges Konzept. Auch mein Grossvater würde sich in der Urne umdrehen. Schon klar, Kleider decken zu. Aber das war zu Zeiten als man Kleider noch trug, um nicht zu frieren. Das weiss allerdings nur, wer dem historischen Museum einmal einen seiner wertvollen Freizeitslots opferte. Aber wer wirklich cool sein will, darf einfach einige Dinge nicht wissen. Was willst Du von einer Generation erwarten, deren grösster Ausbruchsversuch ein Tattoo im Ausschnitt ist. Oder eine Kreuzfahrt in der Ägäis. Oder – Chef bewahre – beides. Wie gesagt, von denen habe ich auch zwei zu Hause. Peinlich.

Endlich kommt der Bus. Zu viel Cosinus schlägt aufs Gemüt. Mein forschender Blick ins Innere des Busses entgeht der Mumie nicht. Er drückt mir drei fünfzig in die Hand. Ich komme fast nicht aus der Schockstarre mit eingebautem Fragezeichen heraus. ‘Drei–fünf–Zero’, sagt er und zwinkert mit einem Konsolen-Cursor. Der Typ ist sowas von abgefahren. Psycho. Cool – schade, dass der schon bald meinen Grossvater besucht. Ich gehe zum Automaten und tue so, als ob ich die Münzen reinschmisse. Der braucht ja nicht zu wissen, dass ich ein Monatsabo habe…;-)