Unsere Natur

“Natur ist eine gute Sache! Nicht eine schlechte Sache! Eine gute Sache!”
“Jaaaaa”, kommen die ersten Schreie aus den vordersten Reihen.
“Jaa…”, nimmt der Redner väterlich auf, “Jaa… Wegen Euch! Ihr macht die Natur eine gute Sache. Jaa…” und schweift mit seinem Zeigefinger über einige von uns Gesegneten: “Wir lieben die Natur!” und eine einzelne Stimme: “Und wir lieben Dich!” – “Jaa…” – Wir schaukeln uns hoch: “Wir lieben Dich!”

“Wir tragen Sorge zu unserem Land. Zum Land unserer Arbeiter und Kriegsveteranen. Zur Natur. Zu unserer Natur. Wir haben Nationalpärke eingerichtet. Wir haben Organisationen wie die Grimpis und den WEF aufgebaut. Wo wäre die Natur ohne sie? Die Natur kann froh sein um uns! Wir haben das Kyoto-Protokoll als Erste unterzeichnet. Und noch heute behaupten Möchtegernmedien in ihrer unlesbaren und irreführenden Sprache das Gegenteil. Aber wir lassen uns nicht fehlleiten. WIR TUN etwas! Jedes Kind weiss, dass die Pflanzen aus CO2 Sauerstoff machen. Diese Pflanzen müssen wir hüten wie unsere Augäpfel. Und deshalb geben wir ihnen soviel CO2, wie wir nur können!” – “Jaaaa”

“Gerade heute morgen sass ich mit meinen Beratern zusammen. Sie haben mir besorgt mitgeteilt, dass die Natur leidet.” – “Aaaahh…” – “Jaa. Wir werden das ändern. Zusammen – ich und Ihr. Diese Berater – alles hochdekorierte und engagierte Experten aus Hochfinanz und Industrie – teilten mir mit, wie die Natur leidet: Ölverschmutzung! Schwermetallbelastung! Obligatorische Krankenversicherung!” – “Ohhh…” – “Aber wir werden der Natur helfen. Wir werden sie retten!” – “Jaaaa” – “Vor allem unsere Nationalparks. Die Kronjuwelen unserer Natur. Aber wir retten sie! Nicht wie mein Vorgänger im Amt! Wir tun wirklich etwas! Denkt daran. Und denkt daran, wenn Ihr im Herbst den Wahlzettel abgebt. Denkt daran.” Wir sind voll im Sog: “Wir lieben Dich!”

“Es ist Zeit für Taten! Jetzt ist fertig geplaudert. Mit mir und mit Euch gibt es Lösungen – nicht Probleme!” – “Jaaaaa” – “Als erstes nehmen wir diese Öl- und Schwermetallbelastung aufs Korn: Wir holen dieses völlig unnötige Öl, Gold und Silber aus den Nationalparkböden heraus. Auch meine Experten sind Feuer und Flamme für meine Idee. Sie versichern mir sogar, dass sie wertvolle Kontakte zu Entsorgungsunternehmen hätten. Wir werden den Zugang zu den Böden sichern, indem wir grossflächig brandroden. Meine Experten haben heute über Mittag nachgerechnet, dass dabei soviel CO2 freigelegt wird, dass damit eine noch grössere Grünfläche zur Sauerstoffförderung versorgt werden kann. Rodung ist eine gute Sache! Nicht eine schlechte Sache! Eine gute Sache! Für unsere Kinder und Kindeskinder und – natürlich – Für Euch. Für Euch, die Ihr schon so oft im Leben unten durch musstet. Viele von Euch haben sogar heute noch nur ein einziges Auto. Das hat jetzt endlich ein Ende!” – “Jaaaaa”

“Wir haben bleifreies Benzin. Wir haben Wasserschauspiele in der Wüste. Wir bauen Dämme gegen die Ozeane, um die Natur zu schützen. Wir lockern die Steuern für Unternehmen, die uns bei der Lösung der Bodenbelastungen helfen. Wir sorgen für den Erhalt der Nationalpärke. Wir schützen sogar die Natur vor sich selber.” Die kurze Pause ist kaum auszuhalten. “Ja, ohne uns gäbe es die Natur gar nicht erst!” Die Halle tobt.
Er schweift wieder mit seinem Zeigefinger über uns – und trifft mich mitten in mein Herz. Mein Wahlzettel ist in Gedanken schon ausgefüllt… Für unsere Kinder und Kindeskinder.

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SaunApp

Einmal mehr. Zwei Neue in unserer Sauna und schauen sich verschüchtert um. Fallen auf, weil sie auf keinen Fall auffallen wollen. Sicher vom Verein der anonymen Saunopathen. Keine Saunacrème, kein SmartHut und schon gar kein SaunApp-Gürtel mit Schulterhalfter. Ein fragender Blick zur Deckenantenne im Ruhebereich stösst mein Mitgefühl endgültig an: “Guten Tag. Wenn Sie sich fragen, weshalb es in einer Sauna WLAN braucht, dann sind Sie bei mir goldrichtig. Mein Name ist Fatzke und ich bin heute Ihr Sauna-Instruktor.”

In die Sauna kann nicht jeder Idiot. Aber natürlich machen wir heute eine Ausnahme. Früher war ich mal Bankdirektor. Dann bildete ich mich weiter und habe seit einem Jahr den Master of Aufguss.

“Immer mehr Gäste verlangten mit zittrigen Fingern auch hier nach einer Verbindung zum realen Leben. Um sie nicht als grünblaue Entzugsleiche2.0 entsorgen zu müssen, griffen wir vor und bieten jetzt auch gleich unsere SaunApp an.” – “Aha”, sagen sie und zeigen mir, dass sie von Sauna soviel Ahnung haben wie ein Streifenhörnchen von Louis Vuitton, und umgekehrt. Aber die Vorlesung über Geduld kommt schon im ersten Semester der SaunAcademy.

“Die SaunApp ist Dreh- und Angelpunkt des Saunasports. Alle haben ihr Smartphone neben sich, wo die persönliche 4K-Sanduhr läuft. Die sympathische Navi-Stimme sorgt auch dafür, dass die bisher peinliche Stille in der Sauna der Vergangenheit angehört.”

Die beiden haben ja sowas von keine Ahnung. “Sie können nochmals in die Garderobe gehen, um Ihr Smartphone zu holen. Dann laden Sie die App herunter, richten ein Konto ein und kommen wieder her. Sie sehen überall die QR-Codes dazu.”

qrcode_saunapp

“In der Zwischenzeit bereite ich schon mal Ihre SaunApp-Gürtel vor.” Und noch bevor sie einen Gameover-Tilt haben, fahre ich fort: ”Der ist für Smartphone, Saunacrème, Stirnschweisstüchlein, Wettkampfabzeichen, diverse Verbindungskabel usw.”

Auf jeder Sitzetage hat es nämlich Steckdosen für Ladegeräte und Halterungen für Selfie-Stangen. Ein Fitnesstracker ist zuständig für die Livedatenübertragung an die SaunApp. Diese teilt Ihnen zeitnah via Ohrwurm mit, wie Ihr internationales Ranking ist. Plus Trend, denn SaunApp lädt Ihre Daten sofort hoch auf Schweissbook, wo Sie in der SaunArena gegen andere um die Wette safteln. Dieses Feature können Sie natürlich deaktivieren – nach jedem Update von Neuem. Die Analysedaten gehen auch selbständig an OpenDoc oder – falls Sie eine Frau sind – an OpenGynec.Wo wir früher noch auf Frottiertücher zurückgreifen mussten, sitzen wir heute auf TranspirationWearables und schwitzen unseren Hintern direkt in die Cloud. Ob wir auch Video unterstützen? Naja, Live Streaming ist in Europa noch nicht zugelassen – ebenso wenig wie Telefonieren am Steuer. Aber wir stehen selbstverständlich schon längst an der Seitenlinie. Ein Knopfdruck – und wir sind dabei. Aber ich versichere Ihnen, Sie kommen sich schon heute nackt vor, wenn Sie in der Finnensauna keine Okulus-Rift auf haben.

“Und wenn wir das nicht wollen?” Aah, unsere Kücken haben ihre Stimme wieder gefunden. “Wo ist das Problem?” – “Privatsphäre…” – “Kommen Sie mir nicht mit Privatsphäre. Da schüttelt sich mein Kopf schon ganz von alleine. Denn überlegen Sie mal, wie es früher war: Nacktzone – freie Sicht ins Rastatal. Heute achtet niemand mehr auf Sie. Alles, was zählt, sind Daten. Ihre Daten. Wir sind nicht zum Vergnügen hier.”

Sie gehen in Richtung Garderobe und ich sehe, wie sie beim Rausgehen einander anschauen und mit den Zeigefingern ihr Gehirn massieren. Die werden nicht wieder kommen. Diese Dinos kenne ich: Denken noch selber, sterben aus.

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Bushaltestelle

Drei fünfzig für vier Haltestellen! Drei-Fünf-Zero. Die nehmen es auch von den Untoten. Und der Bus soll erst in sechs Minuten kommen. Da friere ich mir noch einen Ast ins Knie. Ich könnte ja zu Fuss gehen. Aber ein bisschen Würde sollte man sich auch an einem Montagmorgen bewahren. Klinisch bin ich sowieso schon wieder im Wochenende. Dazwischen liegt aber noch ein echtes Problem. Sie nennen es Schule. ‘Non scholae sed vitae…’, sagen sie. Dass ich nicht absacke! Wenn dem so wäre, dann hätte ich schon vor Jahren angefangen zu leben, q.e.d – quod erat expectandum.

Die Haltestelle kenne ich mittlerweile bis runter auf Rastergrösse Kaugummileiche. Jeden Morgen trampeln die selben Roboter auf ihnen herum. Man könnte ihnen gleich die Hand schütteln: ‘Herr Harzenmoser, Frau Zumstein, guten Tag, freut mich…’ und weitere Lügen, ohne welche die anderen einen zu schneiden beginnen würden.

Aber heute ist da noch ein Neuer. Der wird auch gebührend geröntgt. Er scheint gar nicht so neu auf der Welt zu sein: Er röntgt schamlos zurück. Sein Blick bleibt an meinem T-Shirt hängen: “FAQ DA CLOUD”. In seinen Augen glänzt ein root-Konsolen-Cursor. Der glaubt an Nullen und Einsen – an Einsen aus Hoffnung und an Nullen aus Erfahrung. Kenn’ich, kenn’ich. Die haben auf der Uni ihren Vorlesungsplan noch nach Interessen zusammengestellt. Lochkartengeneration und stolz darauf. Von denen habe ich auch zwei zu Hause. Mitte vierzig. Mumie. Ich könnte ihn nach der Zeit fragen. Der fällt durch. Der glaubt glatt, ich hätte kein Smartphone. Sein Verstand würde auf allen acht Kernen in einen Bluescreen rasen. Da ginge gar nichts mehr. Niente, nada, nastrowje.

Auch ich werde später meinen Vorlesungsplan nach meinen Interessen zusammenstellen: Kreditpunkte. Ich habe einen vollständigen Satz von Hauruck-Gurus ihres Faches an der Hand, die mich fürs Studium schlau machen und – last but first – mir gute Noten verabreichen und dann den Zettel sichern. So schaut’s aus. Cosinus ergo sum.

Inzwischen ist sein Scan bei meinen Designer-Jeans angekommen. Der urteilt nur nach dem Äusseren. Sowas von oberflächlich! Aber das sieht man dem auch schon von Weitem an: Der ist von innen heraus oberflächlich. Dass Kleider schon beim Kauf voller Löcher und Risse sein könnten, ist ein gänzlich neuartiges Konzept. Auch mein Grossvater würde sich in der Urne umdrehen. Schon klar, Kleider decken zu. Aber das war zu Zeiten als man Kleider noch trug, um nicht zu frieren. Das weiss allerdings nur, wer dem historischen Museum einmal einen seiner wertvollen Freizeitslots opferte. Aber wer wirklich cool sein will, darf einfach einige Dinge nicht wissen. Was willst Du von einer Generation erwarten, deren grösster Ausbruchsversuch ein Tattoo im Ausschnitt ist. Oder eine Kreuzfahrt in der Ägäis. Oder – Chef bewahre – beides. Wie gesagt, von denen habe ich auch zwei zu Hause. Peinlich.

Endlich kommt der Bus. Zu viel Cosinus schlägt aufs Gemüt. Mein forschender Blick ins Innere des Busses entgeht der Mumie nicht. Er drückt mir drei fünfzig in die Hand. Ich komme fast nicht aus der Schockstarre mit eingebautem Fragezeichen heraus. ‘Drei–fünf–Zero’, sagt er und zwinkert mit einem Konsolen-Cursor. Der Typ ist sowas von abgefahren. Psycho. Cool – schade, dass der schon bald meinen Grossvater besucht. Ich gehe zum Automaten und tue so, als ob ich die Münzen reinschmisse. Der braucht ja nicht zu wissen, dass ich ein Monatsabo habe…;-)

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John Wayne

Schon vor dem Aufwachen wusste ich es: Dieser Tag ist im Eimer. Den will ich nicht. Den kannst Du zurück haben. Letzter Freitag im Juli, 1400: Sitzung mit Hyäne Hotz. Und seiner Kröte Huper. Wie jedes Jahr. Von Prokurist (honoris causa) Huper minutiös so gewählt, damit alles Lästige zusammen kommt. Längere Ferien mit den Kindern? Vergiss es! Und wenn doch? Selbst bei Hitzewelle jeden Tag Eisregen! Gutes Mittagessen unter Kollegen vor der Sitzung? Auf dem Menü stehen nur rohe Kutteln bzw. Asche für Vegetarier! Vorfreude aufs Wochenende? Träum weiter!

Schon seit dem Schulabgang arbeite ich bei Hotz & Plotz GmbH, Vermögensumlagerungen aller Art. Eine Art Bank. Und wenn mir einer kommt und sagt: ‘Das ist doch unübertreffbar langweilig.’, so widerspreche ich vehement: ‘Gib mir ein Wochenende Zeit, und ich liefere Dir am Montag zwei, drei Gegenbeispiele aus dem Stehgreif.’ Naja, sagen wir, eines würde ich schon noch hinkriegen. Als Prokurist (lapsus causa) kann ich ja nicht zwanzig Jahre in den Sand gesetzt haben.

Heute ist Casual Friday. Hohn pur. Ausserdem: Gilt das auch für Sitzungen mit dem Gruselzoo? Sicher ist sicher, denke ich und stülpe mir die etwas zu engen Marken-Nadelstreifen von Bank & Rott über den bereits leicht zuckenden Körper. Auf dem Weg zu meinem Büro gleitet schon bei allen ein grinsendes ‘O-oh’ über das Gesicht. Einige stehen sogar auf, Blick zu Boden, rechte Hand vor dem Herzen. Soviel zu meinen mitfühlenden Kollegen. Aber keiner würde mich auf den noch halb offenen Hosenstall aufmerksam machen.

Die Sekretärin vor dem Direktionsbüro mustert mich Kaugummi kauend aber sonst ausdruckslos von Kopf bis auf halbe Höhe, dann von halber Höhe bis Fuss und winkt mich wortlos zur Tür hinüber. ‘Vielen Dank’, schlucke ich und lege meine Kaltschweiss gebadete Hand auf die noch kältere Klinke. Ich bin John Wayne, gehe jetzt hinein und ziehe ihnen eins über die Rübe, denke ich und gehe hinein. ‘Guten Tag, Herr Direktor.’, sage ich unsicher und nicke, ‘Herr Huper’ und nicke nochmals, obwohl ich per Du bin mit Huper, diesem Oberschleimer. Der holt sogar noch Anlauf, um in Hotz’ Hintern zu kriechen. Als John Wayne trete ich ihm mit meinen staubigen Stiefeln in die Seite und schaue mitleidig auf ihn nieder, wie er sich schmerzverzerrt im Sand windet. Die beiden thronen selbstgefällig in ihren tiefen Polstersesseln und schauen mich herablassend an. Dass beide in Jeans und Polohemd da sitzen, ist auch nicht gerade hilfreich. Hotz sagt nichts und Huper zwinkert mit dem linken Auge – und zielt mit dem rechten Auge über seinen ausgestreckten Zeigefinger direkt auf mein Familienglück. Reflexartig zucke ich zusammen und halte meine Hände schützend davor – und sehe die halb offene Tragödie. Mit einer Hechtrolle hinter den Felsvorsprung rette ich mich in Deckung und schiesse sofort mit der durchgeladenen Winchester zurück. Ich drehe mich um und ziehe schnell den Reissverschluss hoch – der sich nun vollständig mit dem Hemd verkeilt und sich um keinen Millimeter mehr bewegen will. Noch eine Winchestersalve zu Bösewicht Huper hinüber und noch ein erfolgloser Reissverschlussversuch. Und jetzt hat auch noch die Winchester Ladehemmungen! Leicht gebeugt halte ich mein Notebook vor den Schoss und schaue die beiden an. Huper ist in Weihnachtsgeburtstagsstimmung.

Ich gehe näher heran, um mich in einen Polstersessel zu setzen. ‘Sie können gerne stehen bleiben!’ Ich werfe mich quer zu den Armlehnen in den Sessel, schiebe meinen Hut tiefer ins Gesicht, stelle meine abgelatschten Stiefel auf den Tisch und sage mit rauher Stimme: Riech an meiner Flinte, Du elender Wurm! ‘Oh, Verzeihung’, stammle ich und richte mich ruckartig wieder auf, noch bevor ich den Sessel auch nur berührt hätte.
‘Wir haben uns Ihre Zahlen des vergangenen Jahres angeschaut…’ Auf dem Grossbildschirm hinter mir – wieder so ein erniedrigender Einfall Hupers – erscheint ein Diagramm des Vorvorjahres. Strohhalm! Ungedeckte Huper-Flanke! ‘Aber das sind ja die Daten vom Vorvorjahr! Veraltet!’ japse ich schon fast euphorisch. ‘Da hat er recht.’ sagt Hotz zu Huper. Aber Huper sagt nur nonchalant: ‘Die Daten sind die gleichen wie im vergangenen Jahr. Die Aktualisierungsmühe habe ich mir erspart.’ – ‘Das bedeutet, dass ich im vergangen Jahr den Stand gehalten habe!’ triumphiere ich. – ‘Auch nur, weil wir Ihre Südsparte ausgequellt haben.’, sagt dieser Bandit. – ‘Oh.’ – Das Spiel zwischen den beiden war abgekartet. Und ich ging pholl in die Phalle. Meine Flinte klemmt zwar, aber ich ergreife sie am Lauf und ramme den Stutzen in Hotz’ Magengegend und meinen Ellbogen in Hupers Rücken. Die beiden krümmen sich im Schlamm. Verächtlich schreite ich weg und nehme mein Pferd am Zügel. – ‘Das lassen sie hier!’, befiehlt Hotz. – ‘Was??’ – ‘Das Notebook.’ – ‘Ah’, sage ich verlegen und gehe hinaus. ‘Und bringen Sie noch zwei Kaffees rein!’ Zucker? Milch? Zyankali? – ‘Zucker! Zweimal!’ – ‘Kommt sofort’, hauche ich. – ‘Was denn sonst!?’, sagt er.

Ich habe ja noch meinen durchgeladenen Revolver. Die beiden knüpfe ich mir vor – nächstes Jahr.

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Ruhewagen

Selbst ein Maulwurf mit Augenklappen hätte gesehen, dass die beiden hier total fehl am Platz waren. In den Ruhewagen kommt man nicht zu zweit.
„Oh, die haben einen Ruhewagen.“ – „Ja, das ist toll. Dann muss man nicht so laut reden. Oft nehme ich ihn auch, wenn ich einfach nur ein wenig schlafen möchte. Es sei denn, da sind irgendwelche Idioten und plaudern munter drauf los.“ – „Ich kann im Zug nicht schlafen. Untergrund, Du weisst schon…“ – „Ooh, jah, das kenne ich. Ich habe mich auch schon beschwert. Die sollten diese Wagen mal ausmessen. Richtig seriös. Mit einer Wünschelrute.“
Ausgerechnet neben mir. Ich beobachte, wie meine Faust Mass an ihrer Kinnlade nimmt, um den globalen Frieden wieder herzustellen.
Als wir noch unten in der Bucht wohnten, kam uns auch mal einer mit seiner Wünschelrute ins Haus. Siri, unsere Jüngste, offiziell schon längst Erwachsene, litt grossmassstäblich an Schlafmangel. Sie hat diese Wünschelgurke im Chat empfohlen bekommen. Mit einem Doktortitel. Wahrscheinlich von der Universität ein paar hundert Meilen östlich von Albert Schweitzers Klinik. Sie hat eben eine ziemliche Schraube locker. Aber natürlich denkt sie genau das gleiche von uns. Sie heisst auch nicht Siri. Wir nennen sie nur so, weil sie schon beim Frühstück ihr Babyphone voll labert und GAFAs Datenbanken füttert. Auch woher der Schlafmangel kommt, sieht der Maulwurf von oben sofort. Selbst mit Tomaten auf den Augenklappen. Aber den fragt ja keiner. Wenn die etwas sagt, dann weiss es zwei Sekunden später die NSA – und zwei Sekunden vorher Google. Ihre Therapeutin nennt es e-kommunikative Hochveranlagung. Meine Rede: Schraube locker. Beide. Der Typ stapfte die Wohnung kreuz und quer ab. Wenn er einen Tropfen gefunden hätte, wäre es viel gewesen. Und das in einem Hausboot.
„Nein, ich bekomme immer Kopfschmerzen, wenn ich beim Zugfahren einschlafe und in meinem Unterbewusstsein holpert und rattert es so.“
Tachyonenstein an die Birne, und zweihundert Mäuse später sind deine Kopfschmerzen Geschichte, Lady. Kenne ich von einem autodidaktischen nicht ganz geputzten Überlichtfritzen.
„Du solltest es mal mit Tachyonen versuchen…“
Unglaublich! Woher ich das alles nur weiss?
„…mein Meister hält Dir eine Dreiviertelstunde lang einen Stein an die Schläfen, und dann sind Deine Kopfschmerzen keine mehr.“ – „Tachyonen?“ – „Ja, sozusagen ein Lottogewinn der Quantenphysik.“ – „Ah, ‘Quantenphysik’. Das wollte ich schon lange mal lesen. Wer hat das schon wieder geschrieben?“ – „Die Plejadier.“ – „Ah.“ – „Wir würden sowas nie hinkriegen. Nicht einmal Einstein, Schrödingers Katze oder Cicciolina haben sie verstanden.“ – „Cicciolina?“ – „Italienische Starpolitikerin mit IQ 75D.“
Gefangen im Ruhewagen. Im unendlich tiefen Potentialtopf. Zusammen mit einer zerebralen Kernschmelze.
„Und worum geht es in ‘Quantenphysik’?“
Mann, jetzt bin ich aber mal gespannt. Die Friedensfaust entsichert.
„Von aussen gesehen sieht es etwas mathematisch aus. Mit all den Zahlen und Nummern und so, Du weisst schon. Aber das ist eben die Sprache der Plejadier. Schlüsselt man sie auf, so bleiben nur ein paar vollkommen verständliche Aussagen. Krabbelgruppen-Stoff bei denen.“
Zum Beispiel?
„Zum Beispiel?“ – „Zum Beispiel, dass alles mit einander verbunden ist. Nichts ist alleine. Du, ich, die Natur, mein Meister, Dein Geld…“
Das ist mir zuviel. Verschränkt. Ich und dieser Charmequark. Ich packe mich am Schopf und schleife mich in den nächsten Wagen. Dort ist zwar nur zweite Klasse, aber wenigstens habe ich jetzt Ruhe vor dem Ruhewagen.
„Hallööchen. Ichbingeradeimzugwobistduu?“…
Gebe mir mal einer die Wünschelrute rüber – oder die Stalinorgel.

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Wirtschaftsethik

Mr. Monydonky ist volljähriger Direktionsvorsitzender eines Too-Big-To-Fail-Geldinstitutes in einer führenden Steueroase im Herzen des geografischen Europas. Er ist Autor mehrerer Bücher über Wirtschaftsethik, die er aber selber noch nie gelesen hat. Am Rande eines Grossanlasses zum Thema „Geld stinkt nicht nur nicht, sondern stärkt sogar den Charakter“ konnten wir Mr. Monydonky für ein Exklusivinterview gewinnen (hat uns was gekostet, aber alles andere hätte uns die Socken von den Zehen geblasen). Das ist nicht selbstverständlich für einen Mann von Charakter, dessen Zeit unablässig dafür eingesetzt werden muss, Unfriendly-Takeover-Versuche auf seinen Ledersessel durch andere Männer von Charakter, die seine Bücher ebenfalls nicht gelesen haben, abzuwehren.

elude.ch: Mr. Monydonky, lassen wir die Einstiegsfloskeln und kommen gleich zur Sache: Auch in diesem Jahr bekommen Sie wieder 70 Mio –
Monydonky: – Verdiene ich! Ich verdiene 70 Mio.
elude.ch: Wofür?
Monydonky: Auf meinen Schultern lastet die Verantwortung eines Unternehmens von Weltruf, ja einer ganzen Nation, mit all ihren Bürgern (und Bürgerinnen)…
elude.ch: …deren Wohl Ihnen besonders am Herzen liegt…
Monydonky: …Sie sprechen mir aus der Seele…
elude.ch: …Schon mal was von Sarkasmus gehört?
Monydonky: Sarkozy? Der und Wohl seiner Bürger? Sind Sie noch bei Trost? Sehen Sie nicht, was der gemacht hat? Der liess Hollande ans Ruder. Und was haben wir jetzt? 75% Steuern auf siebenstellige Einkommen! Wie kann da ein ehrlich verdienender Bürger noch überleben, geschweige denn etwas beiseite legen? Also gehen Sie mir aus den Augen mit Sarkozy!
elude.ch: Und wofür bekommen Sie jetzt 70 Mio?
Monydonky: Verdiene ich!
elude.ch: Ja, ja. 70 Mio sind eine schöne Stange Geld. Wissen Sie eigentlich, wieviele Nullen 70 Mio haben?
Monydonky: Wollen Sie mich beleidigen? 7, natürlich!
elude.ch: Ich meine, ohne Sie.
Monydonky: …?…
elude.ch: Also, wofür 70 Mio?
Monydonky: Verantwortung. Nehmen wir das Investmentbanking: Dort ist die innert Stunden umgewälzte Geldmenge so gross, dass Sie damit ganze Kontinente kaufen könnten. Politiker inklusive. Da ist makelloses Vertrauen unabdingbar. Totale Transparenz ist gefragt. Und genau das liegt in meiner Verantwortung. Geht ein Investmentbankbereich in Richtung hops, dann…
elude.ch: …dann springt der Staat ein.
Monydonky: Ah, ich sehe, Sie haben das System der Wirtschaftsethik begriffen: Die Bürger (und Bürgerinnen) stehen hinter uns. Wir sind Flaggschiffe des Staates, Vorbilder für das Volk.
elude.ch: Aber gerade im Investmentbanking hat Ihre Bank im letzten Jahr eine beachtliche Milliardensumme in den Sand gesetzt.
Monydonky: Und genau da sind wir dann gefordert. Es braucht starke Leute mit Charakter, die Verantwortung übernehmen und Rückgrat haben. Noch bevor der Druck des Volkes unsere Regierung implodieren liess, rief ich die Geschäftsleitung zusammen, um nach einem Verantwortlichen zu suchen. Dort haben wir ganz klare Kriterien ausgearbeitet, wie er auszusehen hat. Man kann ja nicht einfach irgendeinen beliebigen Verantwortlichen nehmen. Das ist eine delikate Sache und verlangt grösstes Fingerspitzengefühl. Sehen Sie, er sollte sich zum Beispiel mit der Bank identifizieren. Da verschwindet sozusagen die gesamte Teppichetage vom Radar. Nein, das geht eben ganz anders. Ein Familienvater wäre ideal. Einer, der wirklich arbeiten muss für seinen Lohn. Einer, der weiss, was Verzicht ist und der vielleicht sogar ein Gebrechen hat. Einer mit einer reinen Weste, also einer von ganz unten. Das Volk muss sich mit ihm identifizieren können. Einer von der Strasse. Einer wie Sie und ich…
elude.ch: …Mir wird schlecht. Vielen Dank für die Unterhaltung. Es war mir eine grosse Ehre.
Monydonky: Ich weiss.
elude.ch: Sarkozy.
Monydonky: Nein.
elude.ch: Latz! Over and out.

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Nachhaltigkeit

Es war ein Tag ab der Stange in einer Touristenkonserve an der spanischen Riviera. Sonne, Sand, Pool direkt am Meer und vor allem ein endloses Morgenbuffet. Der volle Katalog eben.
Schon bei der Ankunft fühlte ich mich wie zu Hause. So gesehen hätte ich gar nicht erst herkommen müssen. Der grosse Empfangsbereich mit Springbrunnenlandschaft und grosszügiger Bar war angenehm runtergekühlt. Sofort bekam ich ein enges elektronisches Armband, das mich in diesem Hochkonsumpark als kreditwürdiges Mitglied mit Ablaufdatum ausweisen würde – und zwar auch im Bett und unter der Dusche. Das Management legt grossen Wert auf einfache Abläufe und verschwindende Umweltbelastung. Neben der Anzeigetafel der Tagesanimationen stand auch laut und deutlich: „Wahrer Luxus ist nachhaltig!“ Aber sicher – und Franco war Gründungspräsident von Terre des Hommes. Direkt gegenüber zeigte eine grosse, zum Meer hin offene Seite der Klimaanlage mit dem Mittelfinger wo es jeweils zum wirklichen Leben ging: Heute zum Beispiel zur wöchentlichen Wahl von Miss Beach und Mister Belly.

Während hinter den Kulissen die Mittagsreste der Nachhaltigkeit überlassen wurden, herrschte vor dem Bühnenbild emsiges Naschen an der langen Dessertbar: Elefantentreff. Ich stellte mich in die Schlange zu den zwei Schorsch-Kluni-Maschinen. Gleich hinter mir eine laute, von langen Jahren gehärtete Kleingruppe von Mister Belly Kandidaten und ihr Alpha-Teuton. Vor mir zwei teilhochbegabte Freundinnen nach ihren besten Jahren im direkten Kontakt mit der Technik. Die eine stellt sich breitbeinig vor die Maschine und macht gleich von Anfang an klar, dass der Kaffee jetzt für sie fliessen würde. Und nicht für jemand anders auch noch, denn der Zugang zur zweiten Maschine war auch gesperrt. Nicht dass sie das gemerkt hätte, denn Überblick ist Glücksache, wenn man sich im Zentrum des Mittelpunktes weiss. „Da kommt nichts raus!“ – Hängt wohl damit zusammen, dass die Maschine nicht von alleine gemerkt hat, dass die Regierung davor steht. ‘Gnöbbsche drügge, gnä’ Frau’, denke ich. „Drück mal auf die Tube, da vorne“, kommt es vom Grossen Kanton. „Ah!“, sagt sie nur geniesserisch verlegen, schiebt den Beutel ihrer Wahl in den Schlitz und drückt aufs Gnöbbsche – natürlich das falsche: „Geht nicht.“ – ‘Sie könnten wenigstens die zweite Maschine frei geben, gnä’ Frau’, denke ich wieder. „Man kann auch gleichzeitig zwei Kaffees rauslassen, Lady HiTech!“, kommt es von hinten. „Ah!“ und schon schiebt sie einen zweiten Beutel in den Schlitz – ahhh, neinnn! Dieser Zapfhahn ist hinüber. – ‘Ich korrigiere mich, sagen wir Totalhochbegabung.’ „Natürlich bei der anderen Maschine! Denk nach, Miss Bitch!“ „Ah!“ und schon kommen zwei Beutel in den Schlitz der anderen Maschine – „O-ooh…“. – ‘Ich glaub’s nicht! So ein Spatzenhirn!’ Auch diese Maschine: Hinüber. „Ich glaub’s nicht! So ein Furzkopf!…“ Der Alpha-Belly steht mit offenem Mund vor der Szenerie. Der Kaffee ist bis auf weiteres gestrichen. Zeit für einen ausführlichen Rundgang.

Nach einem kopfschüttelnden Blick zum Strand, wo sich schon alle frisch eingeölt auf dem Grill drehten und einem entnüchternden Erkundungsgang durch die Poolbarrezepte war es denn auch bereits wieder Zeit fürs Abendessen: Buffet – einfach viel länger als der ganz normale Wahnsinn es zuliesse. Die alten Bekannten waren schon alle hier. In alter Reihenfolge: Teilhochbegabung, yours truly, Teutonia. Von beiden Seiten lehnten sie sich ohne weiteres Nachdenken über mein Tablett, um an die vielen bunten und prallen Kalorien ranzukommen. Dass dabei die LaCoste-Bluse aus Honkong durch meine süsssaure Sosse aus Shanghai dümpelte und anschliessend auf die Ulla-Popken-Hose saftelte, merkte wohl niemand. – Zugegeben, ich hätte das Tablett nicht anheben müssen. Die Sosse stellte ich zurück. Bei den Teutonen war das Wettrüsten in vollem Gang: Wer bringt am meisten auf seinen Teller. Beim bedienten Fleischtresen zeigte sich, wer Weltenkenner war. „Caramba, lass mal ein paar Paramatschos rüberwachsen, junger Mann!“ Beeindruckt schauen ihn seine Kumpane an: „Was sind Paramatschos?“ „Eine einheimische Spezialität. Wachteln an einer scharfen Sosse. Hat er unter dem Tresen. Kriegt ihr nur auf Verlangen. Und auch dann nur, wenn ihr zeigt, wer die Herrenrasse ist.“ „Hier auch ein paar Paramatschos, junger Mann!“, „Und hier auch!“, ging es sofort los. Untertänigst und behutsam holte der einheimische Kellner eine Fleischrolle hervor und legte sie auf den unbescheidenen Pommes-Turm. Das brachte selbst Miss Bitch mitten ins Staunen. „Was schaust so deppert?“ – „Wie kann jemand soviel mehr stapeln, als er je zu essen vermöchte! Eine Zumutung!“ „Ja, wie soll ich denn hier schon wissen, worauf ich Lust habe, wenn ich an meinem Platz sein werde? Schorschpfropfen, blöder.“ Mit bewundernswerter Körper- und Stapelbeherrschung schaufelte er noch eine Shanghai-Sosse auf sein Tablett. Ich sah schon, es war Zeit, aufs Zimmer zu gehen. Mein Hunger hielt sich in Grenzen und wurde sowieso schon von anderen gestillt.

Vor dem Fresspalast umhüllte mich eine romantische Stille. Tief atmete ich die frische Meeresbrise ein, während ich hinten herum zu meinem Zimmer schlenderte. Ein Koch und ein Kellner standen im Dunkeln hinter der Küche, Zigarette im Gesicht, und pinkelten über ein Ofenblech voller Paramatschos, die in diesem Stadium noch viel Ähnlichkeit mit frisch gejagten Ratten hatten. Die Philosophie der Nachhaltigkeit in Luxus nahm langsam Gestalt an…

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Narzissah

Als langjähriges Mitglied des wissenschaftlichen Turnvereins weiss ich, wie man sich in einer Garderobe zu verhalten hat. Zum Beispiel sollen Körperhygienemittel, Kosmetika, und andere Werkzeuge für den Körper wie Bürsten, Kontaktlinsen, BHs mit Panzerpolsterung, etc. wieder mitgenommen werden. Und jeden Tag kommt kistenweise Material zusammen, erzählt mir der bierbäuchige Hallenwart.

Mir ist schleierhaft, warum diesen wichtigen Dingen, die anderen das Leben durch den blossen Anblick, weil Frau durch ihren Gebrauch so bewundernswert wird, verschönern, so wenig Respekt gezollt wird. Kürzlich lüftete sich dieser Schleier, als ich sie erblickte: Narzissah.

Sie war von vollkommener Schönheit – ohne Hilfsmittel. Schlank, asiatischer Natur, aber eben nicht nur, mit mandelförmigen, dunklen Augen, leicht gebräuntem, natürlichem Teint, makellosen Beinen, straffem Po und Brüsten, die nicht zu gross und nicht zu klein waren und nirgends auch nur ein Hauch von Wachstumsstreifen oder Orangenhaut. Unverhohlen bewunderte ich sie. Sie gab vor, mich nicht zu bemerken, was ihr nicht schwer viel. Schliesslich war sie es gewohnt, bewundert zu werden.

Nach der Dusche trocknete sie sich und begann, sich einzucremen und anzukleiden. Zuerst das Höschen, ein Hauch. Wahrscheinlich spürte sie den Stoff nicht auf ihrer Haut, was Narzissah veranlasste, sich im Spiegel zu betrachten von vorne, der einen Seite, der anderen Seite und schräg von hinten. Ja, alles perfekt. Und weiter geht’s, mit hohlem Kreuz und weit zurückgezogenen Schultern. Der BH! 75 cm Brustumfang, Körbchengrösse B, obwohl Narzissah einen A-Busen hat, aber nichts desto trotz perfekt ist. Die Leere kann man mit einem zweiten Paar Panzerpolster auffüllen. Und schnell vor den Spiegel. Das Kinn hoch erhoben, die Brust zur vollen Grösse herausgestreckt, betrachtet sie sich kritisch im Spiegel. Der eine Träger wird ein bisschen nach aussen verschoben um eine Sekunde später gleich wieder nach innen gerückt zu werden.

Dann folgen der enge Minirock, der körperbetonte Rollkragenpullover, schliesslich soll die Umwelt keinen zu tiefen Einblick erhalten und die Stiefel, immer unter der Konsultation des Spiegels. Er ist ihr allerbester Begleiter. Er lügt nie, steht immer zu ihr und bestätigt sie in ihrem Aussehen, also Sein. Doch irgendwie muss er sich’s an diesem Tag anders überlegt haben. Mit weit aufgerissenen Augen steht Narzissah plötzlich vor ihrem geliebten Spiegel und zerrt sich panikerfüllt sämtliche Kleider wieder vom Leib. Es sieht aus, als ob ihre Kleider vergiftet worden wären. Vorsichtig, auf den Knien rutschend, taste ich mich zu einem ihrer Kleiderfetzen und berühre ihn kurz mit dem Zeigfinger, so, wie eine heisse Herdplatte. Nein, mein Zeigfinger bleibt heil und ich spüre kein Kribbeln. Also kein Rizin von den Samen des Wunderbaums oder Aconitin vom blauen Eisenhut. Narzissah beginnt zu schreien, als ob sie mehr sehen würde als ich und all die anderen Sterblichen in der Garderobe. „Vielleicht treiben imaginäre Pestbeulen aus ihrer makellosen Haut!“ oder eher ordinär, „sie hat einen Pickel im Gesicht entdeckt oder eine kleine Rundung an ihren Lenden!“ mutmasse ich, während sie splitterfasernackt, schreiend und händeringend aus der Garderobe stürzt. Immer noch auf dem Boden kniend denke ich mir, dass die Erbauer des Onyx gewusst haben mussten, weshalb sie die Spiegelfläche in den Damengarderoben minimierten.

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Onyx

Über eine Dekade besuche ich bereits den Turnverein der Universität. Doch weder die Lokalität noch der Verein braucht solch triviale weil deutsche Wörter. Da heisst es zum Beispiel „power im onyx“ und „scientific sports club Hintertupfingen“. Mir als regelmässige Besucherin ist die Benennung allerdings wurscht, solange das Angebot zum Ausleben meines gesteigerten motorischen Bedürfnisses stimmt – was es tatsächlich tut.

Aber der Weg zum Ziel ist bekanntlich steinig und beginnt nicht erst bei der körperlichen Ertüchtigung sondern bereits bei der Infrastruktur. Am Onyx muss sich mindestens ein/e Architekt/in selbst befriedigt haben, denn anders kann ich mir diese Fehlkonstruktion gar nicht erklären, zumal drei funktionale Sportanlagen der Universität bereits bestehen. Nein, der/die Kreative musste sich unbedingt selbst verwirklichen. Ich stelle mir diese Person als
unsportlich, konturenlos, eigenwillig, egoistisch und gefährlich vor. Wie sonst lässt sich eine Treppe zu den Garderoben erklären, deren Stufen unanständig lang und lächerlich wenig hoch sind, sodass man entweder wie ein Kleinkind, einen Fuss nach dem anderen auf jede Stufe oder wie ein Dreispringer eintreten muss. Letzte Variante wird zu einer Herausforderung, wenn es draussen regnet und die Schuhe nass sind. Dies bringt mich gleich zum nächsten Punkt.

Der Bodenbelag in der Onyx Sportanlage, ausser in der Turnhalle, ist von einem konturenlosen und glatten Weiss. Wenn nass, wird dieser Boden zu einer Rutschbahn. Antirutsch Matten könnten der Gefahr Abhilfe schaffen, aber das sieht wohl spiessig aus. Daher sind nur beim Eingang zu den Duschen solche bünzlige Dinger ausgelegt – basta. Neben der Dusche gibt es einen Spiegel, der das Bild von höchstens drei Schönen widergeben kann und das auch nur, wenn keine von den Dreien sich die langen, blondierten Haare am Trocknen, nein Frisieren, ist mit dem einzigen Föhn. Diese Tätigkeit nimmt bereits den Platz einer weiteren Schönheit in Anspruch. Es muss wohl eine positive Korrelation zwischen Spiegelfläche und Anzahl Föhn bestehen, aber wer bestimmt die absoluten Grössen? Als Biologin habe ich vielleicht eine Antwort: Fehlt das Wasser, im Fall der Umkleide ein Lavabo, müssen beide Grössen minimiert werden. Wozu braucht man auch Wasser zum Händewaschen? Die Schönen brauchen ja auch kein Make-up auf das perfekte Gesicht und auch keinen Frisurenfestiger, denn die Haare sollen natürlich wellen und fallen. Ausserdem ist die Klimaanlage, ganz im Gegensatz zu den Toiletten, in den Garderoben so stark eingestellt, dass mehr als ein Föhn überflüssig wäre, denn die Haare trocknen schnell im Luftzug wie der Schweiss nach dem Turnen. Gänsehaut, vom Luftzug oder vom Geschnatter der Schönen, und die heruntergefallene Jacke, die einfach nicht auf dem Designerkleiderhaken halten will, deuten mir, schnell aus der innenarchitektonischen Glanzleistung einer Garderobe heraus zu rutschen – bis zum nächsten Mal.

 

 

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Bad Scylla

Meine aktuelle Bettlektüre? Kann ich Ihnen genau sagen: „Aquarelax – Die Ruhe vor dem Sturm im Wasserglas“ (Jacuzzi, Ruthless & Ripoff, € 288,80). Der Arzt hat es mir gegeben. Zuerst wollte ich ihm die Fresse polieren, denn ich bin ja sowieso schon die Ruhe selbst. Aber dann blätterte ich ein bisschen darin, denn diese Ausgewogenheit von Körper, Geist und Seele interessierten mich schon von Kindsbeinen an. Bereits in der Volksschule lebte ich diese Harmonie. Jedenfalls schlief ich immer ein. Grob umrissen geht es im Buch darum, dass man erst lebt, wenn man nichts tut, sich gehen lässt und an Schönes denkt – und zwar in einem Sprudelbad. Das hat den Vorteil, dass man sich nicht mal von einer Pinkelpause stressen lassen muss (was natürlich nicht im Buch steht).

Schon Anfang Jahr habe ich mich in diese Literatur gestürzt. Der Sommerurlaub war nämlich in einer Wellnessoase geplant: Bad Scylla. Das will seriös vorbereitet sein. Zen, Yoga, Buddha – alles gekauft, alles gelesen, kenne ich parkör. So bin ich. Keine halben Sachen. Gut, die Übungen habe ich übersprungen. Die brauchen zu viel Zeit und ich habe schon eine teure Anwendung in Powermeditation bei einem Guru gebucht. Aber das soll es mir wert sein. Für dieses Geld kriege ich den schwarzen Gürtel auf sicher. Meine Kollegen werden staunen.

Die Ankunft in der Oase war viel versprechend: Champagner, Snacks, persönlicher Händedruck des Inhabers, volles Programm. Nach Bezug des Quartiers ging es dann sofort ins Qi Gong rüber, das ich etwas abkürzen musste, um noch rechtzeitig die fünf Tibeter abhaken zu können.

Für den nächsten Nachmittag war die Saunalandschaft mit all ihren Erlebnisnischen und Wohlfühlduschen eingeplant. Zur Sicherheit ging ich schon vor dem Frühstück runter und belegte eine Ruheliege mit einem Badetuch und zwei Segelzeitschriften. Könnte eng werden bei den vielen Anfängern hier.

Gegen halb vier begann sich das Drama dann langsam zu entfalten. Wie ich in die Sauna komme, stellten sich meine Nackenhaare schon mit Hackenschlag auf: Meine Liege ist besetzt! Tuch und Zeitschriften daneben zur Wand hin fein säuberlich gestapelt. In aller gespannten Freundlichkeit machte ich den Delinquenten auf sein mangelhaftes Verhalten aufmerksam. Schlaftrunken schaut mich dieses erbärmliche Kleinhirn an und sagt: „Liegen lassen sich nicht reservieren. Schauen Sie nur dort, das Schild an der Wand.“ – „Das ist es ja genau“, sage ich, „das ist es ja. Wenn sich alle daran halten würden, müsste ich meine Liege nicht reservieren, weil dann alle wüssten, dass das meine Liege ist. Aber die Welt ist eine andere.“ – „Wenn Sie meinen…“, sagt er und pennt weiter, dieses intellektuelle Zwergportfolio. Ich gehöre zu den diskreten Bürgern. Ich habe auch grosses Einfühlungsvermögen. Ich habe „90/72 – Der goldene Schnitt der Empathie“ (Dougan & Vasella, 2009/2012) gelesen. Aber bei soviel Rücksichtslosigkeit und ungezügeltem Ausbreitungsdrang läuft selbst bei mir mal der Kessel heiss: „Ich rede mit Ihnen, Sie unflätiger Liegenbrigant!“ – „Reden Sie mit jemand anderem.“ – „Ich suche mit Ihnen den kompromissbereiten Austausch, und Sie kommen mir noch frech, Sie spirituelle Nullrunde! Wir sind hier an einem Ort der Harmonie. Sehen Sie das denn nicht!“ Da kommt es aus einer anderen Ecke: „Pssst!“ – „Pssst Dich doch selber, Du spontaner Schrumpfkopf! Hier reden Erwachsene!“

Langsam formten sich die Lager: Die Usurpatoren-Gang (der Liegendieb mit seinen Kumpanen), die Gruppe für Gerechtigkeit (ich und mein Ego, nicht gerade zahlreich, aber das bin ich mich gewohnt – Zivilcourage ist eine Minoritätenangelegenheit) und der neutrale Rest (Weicheier, Wetterfahnen und Wandaffen). Mein Widersacher spähte durch seine halb zusammen gekniffenen Augen zu mir hoch. „Ja, das gilt auch für Sie, Sie skrupelloser Ruheliegen-Entführer, Sie! Entehren Sie diesen einmaligen Raum der Eintracht nicht noch mehr! Sie Trampel! Sie sind ja nur hohles Füllmaterial in diesem Universum! Mit einem IQ in der Nähe des toten Meeres! Sie neuronaler Globalkollaps! Sie…“ Jetzt sprang er hoch und suchte den Körperkontakt. Er holte schon aus, aber ich war schneller. Faust, Handkante, Fusstritt, volles Defensivspektrum eben. Wichtig ist, dass man als Erster zurück schlägt. Er klappte augenblicklich zusammen – wie ein Grossmeister im Origami. Das war definitiv das Zeichen für die verschiedenen Lager, sich intensiver mit einander zu unterhalten.

Aufgewacht bin ich dann hier. In drei bis vier Monaten kann ich wieder feste Nahrung zu mir nehmen. Aber mein nächster Urlaub ist schon geplant. Bad Scylla natürlich. Der SPA-Bereich soll bis dahin wieder in Stand gesetzt sein. Die Ruhe und Entspannung habe ich mir verdient.

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