Als langjähriges Mitglied des wissenschaftlichen Turnvereins weiss ich, wie man sich in einer Garderobe zu verhalten hat. Zum Beispiel sollen Körperhygienemittel, Kosmetika, und andere Werkzeuge für den Körper wie Bürsten, Kontaktlinsen, BHs mit Panzerpolsterung, etc. wieder mitgenommen werden. Und jeden Tag kommt kistenweise Material zusammen, erzählt mir der bierbäuchige Hallenwart.
Mir ist schleierhaft, warum diesen wichtigen Dingen, die anderen das Leben durch den blossen Anblick, weil Frau durch ihren Gebrauch so bewundernswert wird, verschönern, so wenig Respekt gezollt wird. Kürzlich lüftete sich dieser Schleier, als ich sie erblickte: Narzissah.
Sie war von vollkommener Schönheit – ohne Hilfsmittel. Schlank, asiatischer Natur, aber eben nicht nur, mit mandelförmigen, dunklen Augen, leicht gebräuntem, natürlichem Teint, makellosen Beinen, straffem Po und Brüsten, die nicht zu gross und nicht zu klein waren und nirgends auch nur ein Hauch von Wachstumsstreifen oder Orangenhaut. Unverhohlen bewunderte ich sie. Sie gab vor, mich nicht zu bemerken, was ihr nicht schwer viel. Schliesslich war sie es gewohnt, bewundert zu werden.
Nach der Dusche trocknete sie sich und begann, sich einzucremen und anzukleiden. Zuerst das Höschen, ein Hauch. Wahrscheinlich spürte sie den Stoff nicht auf ihrer Haut, was Narzissah veranlasste, sich im Spiegel zu betrachten von vorne, der einen Seite, der anderen Seite und schräg von hinten. Ja, alles perfekt. Und weiter geht’s, mit hohlem Kreuz und weit zurückgezogenen Schultern. Der BH! 75 cm Brustumfang, Körbchengrösse B, obwohl Narzissah einen A-Busen hat, aber nichts desto trotz perfekt ist. Die Leere kann man mit einem zweiten Paar Panzerpolster auffüllen. Und schnell vor den Spiegel. Das Kinn hoch erhoben, die Brust zur vollen Grösse herausgestreckt, betrachtet sie sich kritisch im Spiegel. Der eine Träger wird ein bisschen nach aussen verschoben um eine Sekunde später gleich wieder nach innen gerückt zu werden.
Dann folgen der enge Minirock, der körperbetonte Rollkragenpullover, schliesslich soll die Umwelt keinen zu tiefen Einblick erhalten und die Stiefel, immer unter der Konsultation des Spiegels. Er ist ihr allerbester Begleiter. Er lügt nie, steht immer zu ihr und bestätigt sie in ihrem Aussehen, also Sein. Doch irgendwie muss er sich’s an diesem Tag anders überlegt haben. Mit weit aufgerissenen Augen steht Narzissah plötzlich vor ihrem geliebten Spiegel und zerrt sich panikerfüllt sämtliche Kleider wieder vom Leib. Es sieht aus, als ob ihre Kleider vergiftet worden wären. Vorsichtig, auf den Knien rutschend, taste ich mich zu einem ihrer Kleiderfetzen und berühre ihn kurz mit dem Zeigfinger, so, wie eine heisse Herdplatte. Nein, mein Zeigfinger bleibt heil und ich spüre kein Kribbeln. Also kein Rizin von den Samen des Wunderbaums oder Aconitin vom blauen Eisenhut. Narzissah beginnt zu schreien, als ob sie mehr sehen würde als ich und all die anderen Sterblichen in der Garderobe. „Vielleicht treiben imaginäre Pestbeulen aus ihrer makellosen Haut!“ oder eher ordinär, „sie hat einen Pickel im Gesicht entdeckt oder eine kleine Rundung an ihren Lenden!“ mutmasse ich, während sie splitterfasernackt, schreiend und händeringend aus der Garderobe stürzt. Immer noch auf dem Boden kniend denke ich mir, dass die Erbauer des Onyx gewusst haben mussten, weshalb sie die Spiegelfläche in den Damengarderoben minimierten.