Jemand hätte dieser Schwimmerin einfach sagen müssen, dass sie auf den letzten 50 Metern nicht gerade 5 Sekunden schneller schwimmen sollte als durchschnittlich auf den vorangegangenen 7 mal 50 Metern. Im Fernsehen kamen die olympischen Spiele, und die Weltrekorde fielen schneller als ich die Kanäle wechseln und die Pharmaindustrie forschen konnte. Wenn diese Spiele ihr Labor war, dann werden sie ihre Analysen bis zu den nächsten Spielen nicht zu Ende denken können. Also müssen Leute her. Notfalls direkt ab Presse. “Speedhiring” nennen sie es. Statistiker zum Auswerten, Marketingleute zum Zurechtdrehen und das mit dem Denken eilt im Augenblick nicht.
“Hallo-o.” Meine WG-Kollegin. Zurück vom Speedhiring. Im Deux-Pièce. Sie sieht meinen verzogenen linken Mundwinkel. “Wass?” Es passt einfach nicht zu ihr, denn sie hat wirklich was auf dem Kasten. Kaderschmiede und MBA – was für eine Talentverschwendung.
“Und? Wie wollten sie Dich haben?” – “Nullachtfünfzehn – ausser dieser einen Träne. Ein alternder Akademiker mit Business-Lunch- und Porsche-Ränzchen.” – “?” – “Der wollte wissen, wie viele Klavierstimmer es in Zürich gibt?” – “Ah! Klarer Fall. Der wollte wissen, wie Du Dich in einer völlig neuen Situation zurecht findest und aus den wenigen Infos eine vernünftige Schätzung zusammen kratzst.” – “Aber-” – “Das ist mein Revier! Die Schätzung muss sec, direkt, einfach und nachvollziehbar sein – und zwar für alle.
Hier zum Beispiel über die Musikalität. Nehmen wir z.B. H.v.Karajan. Der habe die Musikalität 1. In seinem Leben hatte der eine Vinyl-Sammlung von etwa 10’000 Stück angelegt. Bei 300 MB pro LP sind das dann \(3 \cdot 10^6\) MB. Mittlerweile sind wir bei MPx-Playern angekommen, die ihre 60 GB fassen. Diese werden durchschnittlich einmal im Jahr umgewälzt. Du siehst: Gewisse Unsicherheiten sind mit jeder Schätzung verbunden. Wichtig ist nur, dass sie leicht verständlich sind und direkt zum Ziel führen. Nach 50 Jahren hat unser Otto Normalbauch also 3000 GB durchgesammelt. Das sind gerade wieder \(3 \cdot 10^6\) MB (Beachte, dass als Abfallprodukt die Aussage heraus kommt, dass heute ein gewöhnlicher MPx-ler gerade so musikalisch ist wie Herbert es war. Technik ist etwas Tolles.). Bei einer Million Einwohnern gibt das für Zürich eine Gesamtmusikalität \(M\) von \(10^6\) HvK.
Und jetzt kommen wir schnurstracks zur Anzahl Klavierstimmer \(N = \iint_A \delta(\vec{r}-\vec{r_k}) {\bf 1} d\vec{A}\), wobei \(A\) die Fläche der Stadt Zürich ist und \(\vec{r} \cdot d\vec{A}\) bzw. \(\vec{r_k} \cdot d\vec{A}\) konstant sein sollen, d.h. \(\vec{r_k}\) kitzelt gerade den \(k\)-ten Zürcher Klavierstimmer an den Füssen. Da wir die \(\delta\)-Funktion nicht kennen, nähern wir sie mit einer Dichtefunktion \(\rho\) an: \(N = \iint_A \rho(\vec{r}) d\vec{A}\). Auch diese Dichtefunktion kennen wir nicht, deshalb interpretieren wir sie in eine Stromdichte um und betten sie in eine Maxwell-Gleichung ein: $$N = \iint_A \underbrace{\vec{j}(\vec{r})}_{\rho(\vec{r})} + \underbrace{\frac{\partial \vec{D}(\vec{r})}{\partial t}}_{\text{hier: }0} \ d\vec{A}$$
Und jetzt kommt der kleine Geniestreich: Wir fassen \(\vec{j}\) als Rotation der Musikalität \(M\) auf, was dann mit dem Satz von Stokes zu einem Kindergeburtstag wird:
$$N = \iint_A \vec{\nabla} \times \vec{M}(\vec{r}) d\vec{A} \stackrel{Stokes}{=} \oint_{\partial A} \vec{M}(\vec{r}) \cdot d\vec{r} $$
Wenn wir jetzt \(\partial A\) als Kreis mit Radius \(R\) um Zürichs Zentrum wählen, was eine grobe Schätzung, aber sicher gerechtfertigt ist, solange die Transparenz gewahrt bleibt, dann wird die Sache unter der Annahme konstanter Musikalität auf dieser Kreislinie noch einfacher:
$$N = \oint_{\partial A} \underbrace{\vec{M}(\vec{r})}_{M(R)} \cdot d\vec{r} = M(R) \cdot \oint_{\partial A} d\vec{r} = \underline{M(R) \cdot 2 \pi R} $$
Damit ist die Sache kristallklar. Setzen wir für \(R\) 10 km, also \(10^4\) m und für \(M\) die oben vorbereitete Zürcher Gesamtmusikalität ein, so sind wir am Ziel:
$$ N = 10^6 \cdot 2\pi \cdot 10^4 = \underline{\underline{6.28 \cdot 10^{10}}} $$
Natürlich muss man das noch plausibilisieren. Das wollte er bestimmt sehen. Die Kommastellen z.B. sind nicht mehr gesichert. Und auf die 6 vor dem Komma kommt es auch nicht mehr drauf an. Wir haben in Zürich also ca. \(10^{11}\) Klavierstimmer. Das ist sicher möglich, denn die Zahl ist einerseits grösser als 0 und andererseits kleiner als \(10^{80}\), der Anzahl Atome im Universum – sonst hätten wir jetzt ein Problem.
– Übrigens: Was hast Du ihm eigentlich geantwortet?” – “3.” – “Was 3. Und wie kommst Du darauf?” – “Jean-Luc, Theresa und Piotr. Die anderen 21 sind nur Teilzeitstimmer – sind alle bei mir im Streetdance.” – “…okayy… und was hat die Träne gemeint?” – “Wann ich frühestens anfangen könne.” – “Und?” – “‘Nie vor halb elf.’ – Bei diesen Klugscheissern möchte ich nicht arbeiten.” Mir fiel ein Stein vom Herzen. Wie gesagt: Talentverschwendung.