Bad Scylla

Meine aktuelle Bettlektüre? Kann ich Ihnen genau sagen: „Aquarelax – Die Ruhe vor dem Sturm im Wasserglas“ (Jacuzzi, Ruthless & Ripoff, € 288,80). Der Arzt hat es mir gegeben. Zuerst wollte ich ihm die Fresse polieren, denn ich bin ja sowieso schon die Ruhe selbst. Aber dann blätterte ich ein bisschen darin, denn diese Ausgewogenheit von Körper, Geist und Seele interessierten mich schon von Kindsbeinen an. Bereits in der Volksschule lebte ich diese Harmonie. Jedenfalls schlief ich immer ein. Grob umrissen geht es im Buch darum, dass man erst lebt, wenn man nichts tut, sich gehen lässt und an Schönes denkt – und zwar in einem Sprudelbad. Das hat den Vorteil, dass man sich nicht mal von einer Pinkelpause stressen lassen muss (was natürlich nicht im Buch steht).

Schon Anfang Jahr habe ich mich in diese Literatur gestürzt. Der Sommerurlaub war nämlich in einer Wellnessoase geplant: Bad Scylla. Das will seriös vorbereitet sein. Zen, Yoga, Buddha – alles gekauft, alles gelesen, kenne ich parkör. So bin ich. Keine halben Sachen. Gut, die Übungen habe ich übersprungen. Die brauchen zu viel Zeit und ich habe schon eine teure Anwendung in Powermeditation bei einem Guru gebucht. Aber das soll es mir wert sein. Für dieses Geld kriege ich den schwarzen Gürtel auf sicher. Meine Kollegen werden staunen.

Die Ankunft in der Oase war viel versprechend: Champagner, Snacks, persönlicher Händedruck des Inhabers, volles Programm. Nach Bezug des Quartiers ging es dann sofort ins Qi Gong rüber, das ich etwas abkürzen musste, um noch rechtzeitig die fünf Tibeter abhaken zu können.

Für den nächsten Nachmittag war die Saunalandschaft mit all ihren Erlebnisnischen und Wohlfühlduschen eingeplant. Zur Sicherheit ging ich schon vor dem Frühstück runter und belegte eine Ruheliege mit einem Badetuch und zwei Segelzeitschriften. Könnte eng werden bei den vielen Anfängern hier.

Gegen halb vier begann sich das Drama dann langsam zu entfalten. Wie ich in die Sauna komme, stellten sich meine Nackenhaare schon mit Hackenschlag auf: Meine Liege ist besetzt! Tuch und Zeitschriften daneben zur Wand hin fein säuberlich gestapelt. In aller gespannten Freundlichkeit machte ich den Delinquenten auf sein mangelhaftes Verhalten aufmerksam. Schlaftrunken schaut mich dieses erbärmliche Kleinhirn an und sagt: „Liegen lassen sich nicht reservieren. Schauen Sie nur dort, das Schild an der Wand.“ – „Das ist es ja genau“, sage ich, „das ist es ja. Wenn sich alle daran halten würden, müsste ich meine Liege nicht reservieren, weil dann alle wüssten, dass das meine Liege ist. Aber die Welt ist eine andere.“ – „Wenn Sie meinen…“, sagt er und pennt weiter, dieses intellektuelle Zwergportfolio. Ich gehöre zu den diskreten Bürgern. Ich habe auch grosses Einfühlungsvermögen. Ich habe „90/72 – Der goldene Schnitt der Empathie“ (Dougan & Vasella, 2009/2012) gelesen. Aber bei soviel Rücksichtslosigkeit und ungezügeltem Ausbreitungsdrang läuft selbst bei mir mal der Kessel heiss: „Ich rede mit Ihnen, Sie unflätiger Liegenbrigant!“ – „Reden Sie mit jemand anderem.“ – „Ich suche mit Ihnen den kompromissbereiten Austausch, und Sie kommen mir noch frech, Sie spirituelle Nullrunde! Wir sind hier an einem Ort der Harmonie. Sehen Sie das denn nicht!“ Da kommt es aus einer anderen Ecke: „Pssst!“ – „Pssst Dich doch selber, Du spontaner Schrumpfkopf! Hier reden Erwachsene!“

Langsam formten sich die Lager: Die Usurpatoren-Gang (der Liegendieb mit seinen Kumpanen), die Gruppe für Gerechtigkeit (ich und mein Ego, nicht gerade zahlreich, aber das bin ich mich gewohnt – Zivilcourage ist eine Minoritätenangelegenheit) und der neutrale Rest (Weicheier, Wetterfahnen und Wandaffen). Mein Widersacher spähte durch seine halb zusammen gekniffenen Augen zu mir hoch. „Ja, das gilt auch für Sie, Sie skrupelloser Ruheliegen-Entführer, Sie! Entehren Sie diesen einmaligen Raum der Eintracht nicht noch mehr! Sie Trampel! Sie sind ja nur hohles Füllmaterial in diesem Universum! Mit einem IQ in der Nähe des toten Meeres! Sie neuronaler Globalkollaps! Sie…“ Jetzt sprang er hoch und suchte den Körperkontakt. Er holte schon aus, aber ich war schneller. Faust, Handkante, Fusstritt, volles Defensivspektrum eben. Wichtig ist, dass man als Erster zurück schlägt. Er klappte augenblicklich zusammen – wie ein Grossmeister im Origami. Das war definitiv das Zeichen für die verschiedenen Lager, sich intensiver mit einander zu unterhalten.

Aufgewacht bin ich dann hier. In drei bis vier Monaten kann ich wieder feste Nahrung zu mir nehmen. Aber mein nächster Urlaub ist schon geplant. Bad Scylla natürlich. Der SPA-Bereich soll bis dahin wieder in Stand gesetzt sein. Die Ruhe und Entspannung habe ich mir verdient.